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Das Straßenwesen

von | 16 Okt., 2024

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Ing. Wolfgang Wirth

Es gibt unzählige Pressemitteilungen, auch einige angebliche Fotos, unscharf wie von Nessie, aber wirklich gesehen hat es noch nie jemand: das Straßenwesen. Es soll ein riesiges spinnenartiges Urtier sein, das einstmals in einer Höhle in Anatolien hauste. Wo es sich heute ‘rumtreibt, weiß man nicht. Anders aber als bei dem Seeungeheuer in Schottland, von dem wir keine beweiskräftige Hinterlassenschaft haben, kennen wir beim Straßenwesen sein weltumspannendes Netz, an dessen Vervollständigung es unablässig weiterarbeitet. Berichtet und vor allem geforscht über das scheue Wesen wird sehr viel, gerade weil man ihm endlich auf die Spur kommen möchte. Die Paläoontologen behaupten, seine Anfänge gingen auf das 3. Jahrtausend vor unserer Zeit zurück. Im Vergleich zu den Dinos ist das natürlich ein Klacks. Aber vielleicht haben die fossilen Vorfahren des Straßenwesens auch schon an etwas Netzähnlichem gestrickt. Seine Ahnen waren wilde Gesellen, noch unheimlicher als das Straßenwesen selbst, die in grauer Vorzeit auf der Erde wohnten und weniger ein kunstvoll gewobenes Netz hinterlassen haben als ein wirres Gespinst von ausgetretenen Pfaden. In Richard Wagners „Siegfried“ etwa nimmt in mythischer Vorzeit der Lindwurm Fafner täglich den gleichen Weg zur Wasserstelle. Mime, der Zwerg, wörtlich über den Wurm: „Aus der Höhle wälzt er sich her; hier vorbei biegt er dann, am Brunnen sich zu tränken.“ Durchaus möglich, dass Fafner zu den Ahnen des Straßenwesens gehört hat, lebte er doch auch in einer Höhle. Manche Archäologen meinen, diese durch den täglichen Gebrauch zufällig entstandenen Fährtengebilde seien die Vorläufer des auf uns gekommenen planmäßig und kunstfertig gesponnenen Netzes.

Der Lindwurm in Klagenfurt (Österreich 122)

Das Straßenwesen muss gut vernetzt gewesen sein. Kein Wunder, konnte es doch sein ureigenes „Netzwerk“ überall hinspinnen. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts bekam es auf diese Weise mit, dass in Schweden in einem Roman von Selma Lagerlöf von einem „selbsttätigen Wagen“ – das „Automobil“ war noch gar nicht erfunden, geschweige denn das Wort! – die Rede war, „der bergauf und bergab, schnell und langsam ging, sich selber lenken und umwenden, anhalten und in Bewegung setzen konnte, alles, was man wollte.“ Die Autorin schließt mit den Worten: „Wir haben einen selbsttätigen Wagen durch die Straßen tosen sehen.“ Das empfand das Straßenwesen als bedrohlich; traute es schon den menschlichen Fuhrleuten nicht über den Weg (sie stärkten sich bekanntlich gerne mit Schnaps, was oft zu schmerzlichen Netzschäden führte), so machte ihm die Automation beträchtliche Kopfschmerzen. Der selbsttätige Wagen kam ihm einfach widernatürlich vor, und das Straßenwesen betete inständig zum Schöpfer, dass die phantastische Vision niemals Realität werden möge. Denn das Straßenwesen war ein bodenständiges, von seiner Abstammung her durchaus animistisch geprägtes Geschöpf.

Autobahnnetz 1934 von Piero Puricelli

Von Anfang an nutzten die Menschen das Netz, das ihnen vom Straßenwesen ja gratis vor jede Haustür gelegt wurde, für alles mögliche: Es bewegten sich darauf Fußgänger, Reiter, Wagen, Prozessionen und Soldatentrupps, später kamen Automobile und innerorts vor allem Leitungen über und unter den Netzsträngen dazu. Der Überfall des Automobils auf das Netz war ein großer Einschnitt, den das Straßenwesen bis heute noch nicht gänzlich verkraftet hat. Immer mehr wurde dem Straßenwesen klar, dass es zunehmend als „Mädchen für alles“ herhalten musste. Skurrilerweise wurden bestimmte Nutzerinnen, die ihr Wesen auf der Straße treiben, nach dieser benannt – nach heutigem Verständnis handelt es sich dabei um keine Sondernutzung, genau wie bei den Leih-E-Scootern, die wir immer häufiger auf unseren Gehsteigen finden. Während das Straßenwesen für die erste Nutzerkategorie auf seinen Netze milde Nachsicht walten ließ, verabscheut es die Überflutung mit einfach stehen gelassenen oder hingeworfenen Rollern, die seine Gespinste unnötig belasten. Aber wirksam etwas dagegen tun kann es bis heute nicht.

Immer wieder wollten wissbegierige oder sensationslustige Zeitgenossen dem Straßenwesen auf die Schliche kommen. In Berlin wurde 1924 sogar eine Institution zu seiner systematischen Erforschung ins Leben gerufen, auch wenn sie ihren diesbezüglichen Namen erst durch eine Umbenennung neun Jahre später erhielt. Ein Jahr zuvor wollte Fritz von Opel, ein Rennfahrer, der mit dem Straßennetz nach damaligem Stand unzufrieden war, dem mysteriösen Spinnenwesen dadurch auf die Sprünge helfen, dass er einen Netzplan für „transkontinentale Autostraßen“ entwarf. Der Ruf nach diesen stärkeren, komfortableren Netzfäden war etwa seit der Jahrhundertwende in Mode gekommen. Ebenfalls 1923 hat das Straßenwesen in Italien in einem Pilotprojekt, wenn auch nur eine ganz kleine örtliche Netzergänzung mit derartigen Exklusivsträngen verwirklicht, fingerförmig nach Norden zu den oberitalienischen Seen ausstrahlend, die deswegen zwei allerdings in ihrer Funktion noch sehr rudimentäre Knoten aufwies. Immerhin der Anfang war gemacht. Schon 1779, als man von einem „Automobil“, wörtlich das „Selbstfahrende“, allenfalls träumte, hatte sich ein visionärer Geodät namens Christian Friedrich von Lüder darum gekümmert, wie man im Alten Reich das Netz des Straßenwesens auf Vordermann bringen könne. Er malte seine Idee allerdings nicht auf einen Plan, sondern beschrieb nur die Verbindungsstränge zwischen den großen Städten. Anscheinend gefiel es dem Straßenwesen, sich mit adeligen Gesprächspartnern auf solche Diskussionen einzulassen. Leider ist uns nicht überliefert, wie diese Netzprotagonisten mit dem unbekannten Wesen in Kontakt getreten sind, wahrscheinlich über eine Art „Darknet“. So blieben sie in diskretem Dunkel, wie es der Hochadel bis heute vorzieht. Wie heißt es doch so schön: „Noblesse oblige“.

Aufgewühlt blickte das Straßenwesen 1926 auf einen Plan, auf dem rechts unten in unterstrichenen Lettern „Spitzennetz“ stand. Wie um alles in der Welt kann man mit Spitzen ein robustes Netz klöppeln, dachte sich unser Untersuchungssubjekt, und staunte über die Unvernunft der Menschen. Es beruhigte sich, als es am linken Blattrand „Brüssel“ entdeckte: Wahrscheinlich, so sagte es sich, ist dem Zeichner, erschöpft von seiner kartographischen Mühsal, kein besserer Titel eingefallen, und dann gaben die Brüsseler Spitzen eben den entscheidenden Kick.

Während in den 1920er Jahren das Straßenwesen in der Neuen Welt, vor allem im Raum New York, erhebliche Netzverfeinerungen und -verstärkungen vornahm, dümpelte diesbezüglich die Alte Welt abgesehen von dem erwähnten Beispiel in Oberitalien dumpf vor sich hin. Erst 1929 begann das Straßenwesen nach langen Präliminarien mit einem kurzen vierfädigen Netzteil die Verbindung zwischen Köln und Bonn zu verstärken. Dort drohte das bestehende Netz infolge übergroßer Nachfragespannungen zu reißen, es soll die strapazierteste Stelle in deutschen Landen gewesen sein. Es dauerte fast drei Jahre, bis das Straßenwesen das anspruchsvolle und von der Art des Netzstrangs völlig neuartige Werk vollenden konnte.

Unterstützung kam 1933, als gleich mehrere Netzverbesserer auf den Plan traten. Sie hatten klare Vorstellungen vom Leistungssortiment, welches das Straßenwesen künftig zu erbringen habe. Ab sofort sollte es zwei Netzkategorien geben: ein völlig neu zu erstellendes Netz exclusiv für motorisierte Nutzer und das allgemein zugängliche Bestandsnetz, das weiter auszubauen war. Das Straßenwesen empfand es zwar als Bevormundung – von der physischen Belastung gar nicht zu reden –, dass es jetzt gleich zwei verschiedene Netze spinnen sollte, machte aber gute Miene zum bösen Spiel. Denn es gab für das bisher noch in traditionellen Spinnprozessen befangene Wesen auch einiges zu lernen: Einmal lagen ja die beiden Netze nicht nebeneinander, so dass es sie hätte unabhängig voneinander händeln können, sondern sie überlagerten sich, was eine immense Herausforderung darstellte. Hinzu kamen erhebliche Verknüpfungsprobleme, die das Straßenwesen zu lösen hatte: sowohl bei den Knoten innerhalb des neuen Exclusivnetzes als auch bei jenen zwischen diesem und dem herkömmlichen Netz.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag das Straßenwesen ziemlich lädiert darnieder, zumindest was seine Netzbereiche bei uns betraf. In der US-Besatzungszone forderten die autoverwöhnten GIs schon eine Woche nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht das Straßenwesen auf, seine zerstückelten Netze möglichst schnell zusammenzuflicken, so dass man sie wieder durchgängig benützen könne. Ausdrücklich sollte das Straßenwesen diese Restaurierungsarbeiten in seinen „alten“ Organisationsstrukturen ausführen. Das globale Wirken des Straßenwesens brachte es mit sich, dass sich Netzinnovationen sehr schnell von einem Kontinent zu anderen verbreiteten. So kam es, dass wir in den 1950er und 60er Jahren den Straßenverkehr in den USA als absolutes Vorbild ansahen und blind kopierten. Verhängnisvoll in diesem Zusammenhang war die Übernahme des amerikanischen Städtebauideals mit seinen trennenden Hochstraßen zu einem Zeitpunkt, als man in Übersee schon über die problematischen Folgen nachdachte.

1963 staunte das Straßenwesen nicht schlecht, als im Vereinigten Königreich ein von Her Majesty‘s Stationery Office veröffentlichter Report erschien mit einem Foto, auf dem ein Mensch buchstäblich in die Luft ging. Als Rucksack trug er eine Gasflasche (oder auch zwei, das sieht man nicht so genau auf dem Foto): sozusagen Daniel Düsentrieb. Damit wollte man den Fußgängerverkehr in den Großstädten revolutionieren. War das der berühmte trockene Humor der Briten, ging es dem Straßenwesen durch den Kopf. Anfang der 1970er Jahre musste das Straßenwesen das menschliche Bedürfnis nach einem schnellen Ortswechsel, und zwar zu jeder Jahreszeit, hautnah spüren. Die als Hilfsmittel eingesetzten Spikesreifen setzten seinen Netzen arg zu. Immer wieder mussten die verletzten Stränge ausgebessert werden, ein kräftezehrendes Geschäft, das das Straßenwesen fast überfordert hätte. Gerade noch rechtzeitig kam 1975 das Spikesverbot auf deutschen Netzen, und das Straßenwesen konnte aufatmen. Willkommen waren ihm dagegen die unablässigen Bemühungen der Menschen um eine kosmetische Versorgung seiner Netze, die nicht nur den von seinen Nutzern verursachten Strapazen ausgesetzt sind, sondern stets auch den Launen und Unbilden von Klima und Natur.

Bild: Landesbetrieb für Straßenwesen Saarland

Die Zuständigen sprechen von Winterdienst, Instandhaltung und Erhaltung des Netzbestands, eine Art Pflegedienst, den die mobile Gesellschaft nicht ganz uneigennützig für das Straßenwesen erbringt. Es fand sich schließlich auch damit ab, dass man praktische Versuche durchführte mit dem Ziel, die mechanische Beschaffenheit seiner Netzstränge weiter zu verbessern. Als ob ich das nicht von alleine herausgefunden hätte, dachte es sich, merkte aber bald, dass es da mit der ihm von der Evolution vertrauten Trial and error-Methode nicht so schnell vorangekommen wäre.

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Nach wie vor hüllt sich das Straßenwesen in persönliches Dunkel. Deswegen beziehen sich die inflationär anwachsenden Forschungsergebnisse weniger auf das scheue Wesen selbst, sondern vielmehr auf sein Produkt, die unentwegt wachsenden Netze, die immer enger gesponnen werden. Die Wissenschaftler fanden auch heraus, wie man dort, wo das Urtier einzelne Bereiche etwas stiefmütterlich behandele, von Menschenhand nachhelfen und das Netz aus ihrer – der Wissenschaftler – örtlich beschränkten Sicht „nachbessern“, sprich: ergänzen könne, räumlich und qualitativ. Ein m. E. zweifelhafter Nebeneffekt dieser Entwicklung war, dass die Forschungsinstitution für das Straßenwesens und ihre Adepten, bekannt für ihre stets tiefgründigen Nomenklaturkreationen, 1980 eine Umbenennung in die Wege leiteten. Sie sei im Sinne politischer Korrektheit längst überfällig, hieß es damals: Statt „Straßenwesen“ sollten wir nun „Straßen- und Verkehrswesen“ sagen und schreiben. Das war natürlich länger, sprich: umständlicher. An der Mysteriösität des Straßenwesens änderte das nichts. Es betrachtete die Sache skeptisch, eigentlich als Zumutung: War das wirklich nur eine harmlose zoologische Namenskorrektur, oder sollte ihm da mit dem „Verkehrswesen“ vielleicht ein echter Konkurrent erwachsen? Auch ist ja der bestimmt Artikel im Institutionsnamen weggefallen, so dass man jetzt „-wesen“ als Plural verstehen musste. Vielleicht war das schon der Anfang der gender-speech-Welle. Immerhin waren in der neuen Bezeichnung mit Straße (die), Verkehr (der) und Wesen (das) alle drei Geschlechter der deutschen Sprache einvernehmlich versammelt. Welcher Gender-Fetischist hätte da noch ein Haar in der Suppe finden können.

Mit der deutschen Sprache insgesamt schienen sich die forschenden Jünger (sag jetzt niemand, es müsse korrekt heißen „Jünger und Jüngerinnen“) des Straßenwesens ziemlich schwer zu tun, wie mehrfache Beispiele zeigen: Nicht von dem Ersatz von „Spur“ durch „Streifen“, „Beschleunigung“ durch „Einfädelung“ oder „einfelderig“ durch „einfeldig“ soll hier die Rede sein. Das Straßenwesen konnte sich über solch überflüssige Verbalakrobatik, die an der Sache nichts besserte, nur wundern. Es geht um mehr, z. B. den gedankenlosen Umgang mit dem Begriff „Verkehr“: Genau jene Avantgarde, die den klassischen Generalverkehrsplänen vorwarf, dass sie den Namen nicht verdienten, weil sie alle nicht motorisierten Verkehrsarten außer Acht ließen, forderte in den 1970er Jahren von der Gesellschaft „Verkehrsberuhigung“ ein und fiel damit selbst der kritisierten Gleichsetzung von „Verkehr“ und „Autoverkehr“ zum Opfer. Die viel treffendere Parole für ihr sicherlich berechtigtes Anliegen, nämlich „Straßenfrieden“, die während der beängstigend

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ansteigenden Verkehrstotenstatistik Ende der 1960er Jahre aufgekommen ist, kannten sie gar nicht. Noch schlimmer kam es 20 Jahre später mit der im ersten Eifer misslungenen, ja, ins Gegenteil verkehrten Übersetzung von shared space als „geteilter Raum“, inzwischen glücklich geheilt. Naja, das Straßenwesen begrüßte die Lernfähigkeit unseres Metiers. Trotzdem blieb ein fader Nachgeschmack: Das war nämlich der Beginn der leider bis heute von allen Medien und sozialen Netzwerken übernommenen Verwendung des Wortes „teilen“ im Sinn von „untereinander teilen“, eine Verballhornung des Deutschen ohnegleichen. Die Leiden der jungen Wörter lassen grüßen. Aber das gehört eigentlich gar nicht hierher; denn solche kleinlichen Streitereien –  Wortklaubereien, wie man sagt – ließen das Straßenwesen mehr und mehr kalt. Es konnte sich nur über die sprachliche Inkompetenz der jungen Ingenieurgeneration amüsieren.

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An einer Sache nahm unser geheimnisvolles Wesen jedoch nachhaltig Anstoß: am arglosen Umgang mit der „Straße“. Viele verwechseln sie mit der „Fahrbahn“. Dass zur Straße auch Geh- und Radwege, Park- und Busbuchten, Baumgräben, die Leitungen ober- und unterhalb des Straßenkörpers gehören, vergessen sie. Das Straßenwesen erinnert in diesem Zusammenhang immer wieder daran, dass es viele öffentliche Verkehrsangebote (Bus, Strab, Taxi, letztlich auch die lästigen Leihroller und -räder) ohne seine fein gesponnenen Netze überhaupt nicht gäbe. Bedenklich stimmt das Straßenwesen, dass die Menschheit auf seine Netze immer mehr draufpackt wie auf einen geduldigen Lastesel, als ob es da keine Anstandsgrenze gäbe. In jüngster Zeit geistert auch noch das autonome Kraftfahrzeug darauf herum. Selbst darüber sieht das scheue Wesen jetzt großzügig hinweg. Und für die Raser auf seinen Netzen hatte das Straßenwesen noch nie etwas übrig.

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Wenn das Straßenwesen heute Abend in seinem Versteck am Feuer sitzt und alte Zeiten Revue passieren lässt, dann kann es kaum glauben, was es da schon alles erleben musste. Wir wollen die Losungen und Schlagworte, die im Verlaufe der letzten hundert Jahre kamen und gingen, gar nicht aufzählen. Es wäre abgeschmackt. Ich sage nur: „Freie Fahrt für freie Bürger“, auch so ein missverstandener und zweckentfremdeter Wahlspruch wie „autogerechte Stadt“.

Als das Straßenwesen von den Vorbereitungen zum 100-jährigen Jubiläum „seiner“ Forschungsgesellschaft Wind bekam, gedachte es noch einmal des bereits erwähnten Fachaufsatzes Fritz von Opels von 1923, bei dem es am Schluss unter der Überschrift „Die Tragödie großer Projekte“ heißt: „Als vor noch nicht hundert Jahren, am 27. September 1825, zwischen Stockton und Darlington und wenige Jahre später auch auf dem Festland die ersten Eisenbahnlinien in Betrieb genommen wurden, gab es ernst zu nehmende Leute, die beratschlagten, wie die Passagiere und Zuschauer physisch und psychisch gegen die unerhörte Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometer zu schützen seien und wie unrentabel es sei, derartige ‚eiserne Straßen‘ anzulegen. Wir sind sicher, auch das grandiose Projekt der transkontinentalen und vielleicht submarinen Auto-Verkehrsstraßen wird aus den verschiedensten Gründen Gegner und Widersacher finden, aber wer bei Plinius oder Vitruv nachliest, daß zur Zeit Christi Geburt das Römische Reich über 80 000 Kilometer Militärstraßen aus durchweg meterstarkem Beton verfügte, und wer sich vor Augen hält, daß Tag und Nacht in ununterbrochenem Strom in Abständen von weniger als 10 Sekunden Automobil um Automobil erzeugt wird, der wird die unerschütterliche Gewißheit bekommen, daß das, was vor zweitausend Jahren den römischen Kaisern möglich war, der einzig wahrhaftigen und gewaltigsten Majestät, der Technik, ein leichtes ist. Was heute Idee, wird morgen Form und übermorgen zu einem Lächeln der Kinder, die am ‚week-end‘ von London nach München fahren.“

Der römische „Heerwurm“ – manche Historiker vermuten hier den Ursprung des Lindwurms aus der Siegfried-Sage

Das Straßenwesen musste schmunzeln: Lächelnde Kinder aus dem BREXIT-Land fahren am Wochenende auf den Kontinent – im Auto natürlich. Ist „Übermorgen“ schon erreicht? dachte es. Durch den Eurotunnel könnte sie es heute tatsächlich. Das erinnerte das Straßenwesen an die administrativen Hürden, die ihm jedes Mal in den Weg gestellt wurden, wenn es mit einem Netzstrang eine Meerenge überwinden musste, besonders wenn zwei verschiedene Staaten an den Ufern lagen. Es ist schon komisch, dachte es: Genau zwei Jahre nach von Opel schreibt Josef Ponten in dem Buch „Architektur die nicht gebaut wurde“ nach einer Aufzählung von insgesamt sieben nicht realisierten Brücken- und Tunnelprojekten zur Überwindung des Ärmelkanals: „Heute und in Zukunft kommt es zu dem an sich konstruktiv vielleicht möglichen Bau [einer Kanalquerung] nie mehr, weil die Eisenbahn, in ihren Gegebenheiten von der Entwicklung des Flugzeuges überholt, zu veralten beginnt.“ Wie relativ doch Prognosen und Prophezeiungen sind, resümierte das Straßenwesen und rückte näher ans Feuer. Dann stellte es selbstzufrieden fest: „Gewiss ist nur eines: Ohne meine Netze geht gar nichts.“

Eingedenk des lieben Straßenwesens, das ich hiermit freundschaftlich in die Arme schließe, empfehle ich jedem Leser allzeit wachsam zu sein, wenn er sich auf einem Straßennetz bewegt. Vielleicht lässt sich das Geheimnis des großen unnahbaren Wesens eines Tages ja doch noch lüften. Ich grüße alle Freunde des Straßenwesens herzlich.

Wolfgang W. Wirth

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